Interview mit Dr. Julia Berkic

Ein feinfühliger Umgang mit kindlichen Bedürfnissen ist der beste Weg, eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind aufzubauen und psychischen sowie chronischen Krankheiten vorzubeugen. Daher unterstützen die Betriebskrankenkassen in Bayern im Rahmen ihres Präventionsauftrags seit 2016 das Projekt „Feinfühligkeit im Umgang mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter“. Der BKK Landesverband Bayern sprach mit der Projektleiterin und Diplom-Psychologin Dr. Julia Berkic darüber, weshalb Bindung für Kinder so wichtig ist und welche Ratschläge sie Eltern gibt.

BKK LV Bayern: Frau Dr. Berkic, weshalb sind die Themen Feinfühligkeit und Bindung im Umgang mit Kindern so wichtig?

Dr. Berkic: Wir wissen aus vielen Jahrzehnten Forschung, dass Bindungssicherheit durch einen feinfühligen Umgang mit kindlichen Bedürfnissen entsteht. Das bedeutet zum einen, dass Kinder sich selbst als liebenswert erfahren und merken, dass ihre Bedürfnisse beachtet werden. Zum anderen erwarten sicher gebundene Kinder von ihren Mitmenschen grundsätzlich, dass sie ihnen wohlgesonnen sind. Diese Eigenschaft hilft ein Leben lang, aus schwierigen Situationen das Beste zu machen, erhöht die Sozialkompetenz und schützt vor körperlichen und psychischen Erkrankungen.

Das soll nicht heißen, dass Bindung Alles ist, es gibt auch viele andere Faktoren, die mitspielen. Aber in beinahe allen Längsschnittstudien gehören Bindung und Feinfühligkeit zu den entscheidenden Faktoren, die Einfluss auf die Entwicklung der Kinder haben, vor allem in sozialen Beziehungen und ihrem späteren Umgang mit ihren eigenen Kindern.

 

BKK LV Bayern: Sie sind oft in Kinderbetreuungseinrichtungen und haben Kontakt zu Eltern und Erziehungspersonal. Erhalten Sie auch negative Rückmeldungen zu diesem Thema? Wie zum Beispiel dass die Kinder „verweichlichen“ könnten oder dass der feinfühlige Umgang an der späteren Lebensrealität vorbei geht?

Dr. Berkic: Ja, das erlebe ich durchaus. Und das ist auch verständlich, denn das hat eine lange Tradition in Deutschland. Man war lange der Meinung, dass Kinder, deren Bedürfnisse beachtet und befriedigt werden, verweichlichen oder zu Tyrannen werden oder – in den dunkelsten Zeiten unserer Geschichte - zu „keinen guten deutschen Soldaten“ werden. Das wurde zum Glück mit den ersten Untersuchungen zur Bindungsforschung in den 1960-er Jahren widerlegt. Babys und Kleinkinder, deren Signale in den ersten beiden Lebensjahren wahrgenommen wurden, kommen später besser zurecht, sind weniger weinerlich und weniger anstrengend. Diese Kinder kennen später ihre Bedürfnisse besser, können diese äußern und sind insgesamt einsichtiger – also einfacher im Umgang. Natürlich trifft das nicht immer zu, das sind Durchschnittswerte. Seitdem ist aber tatsächlich belegt: Ein feinfühliger Umgang hat nichts mit Verwöhnen zu tun. Einige Menschen verwechseln Feinfühligkeit damit, dass man Kindern alle Wünsche erfüllt oder dass man sich nur nach den Bedürfnissen des Kindes richtet. Es geht jedoch darum, die emotionalen Grundbedürfnisse zu erfüllen, Signale zu erkennen und dadurch den Kindern beizubringen, ihre Bedürfnisse besser zu formulieren. Und es geht vor allem auch darum, Kindern beizubringen, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten erkannt und berücksichtigt werden. Feinfühligkeit hat viel mit Empathie und Perspektivenübernahme zu tun, die man nur durch eigenes Erleben lernen kann.

 

BKK LV Bayern: Das Thema Feinfühligkeit hört sich ziemlich theoretisch an. Können Eltern einen feinfühligen Umgang mit Kindern lernen?

Dr. Berkic: Ja, auch das ist aus der Forschung bekannt. Bei weniger stark betroffenen Eltern hilft oft schon die Teilnahme an unserem Elternabend. Da reicht der Anstoß, bestimmte Kompetenzen zu stärken, Prioritäten zu überprüfen und das eigene Handeln immer wieder zu reflektieren. Es gibt aber auch Eltern, bei denen stärker interveniert werden muss. Hier arbeiten wir beispielsweise mit Video-Feedback, bei dem die Eltern sich selbst in der Interaktion mit ihren Kindern auf Video sehen. Das ist bei Eltern, deren Feinfühligkeit stark beeinträchtigt ist, sehr hilfreich, um das eigene Verhalten einzuschätzen. Zudem können sie ihre eigenen Stärken sehen und ausbauen. Damit machen wir sehr gute Erfahrungen und erzielen häufig bereits mit wenigen Sitzungen ganz tolle Erfolge.

 

BKK LV Bayern: Während der Corona-Pandemie waren und sind Eltern und Kinder viel zu Hause, manche davon auf sehr engem Raum. Was sollten Eltern in solch einer Situation besonders beachten?

Dr. Berkic: Auch hier geht es hauptsächlich darum, verschiedene Bedürfnisse miteinander zu vereinbaren und negative Gefühle zu regulieren. Eltern, die nicht existenziell bedroht sind raten wir, die Situation als Chance wahrzunehmen, um gemeinsam als Familie zu lernen, mit negativen Emotionen, Angst, Einschränkungen und Entbehrungen umzugehen. Das stärkt den Zusammenhalt für die Zukunft. Eine glückliche Kindheit bedeutet nicht alles Leid von Kindern fernzuhalten, sondern gemeinsam mit schwierigen Situationen umzugehen. Eltern sollten nicht den Anspruch an sich stellen, alles perfekt machen zu wollen, sondern die besonderen Umstände so gut wie möglich zu meistern. „Good enough“ ist immer unser Stichwort bei Veranstaltungen. Wenn es für alle gut genug ist, dann ist das in solch einer Zeit schon sehr viel.

 

BKK LV Bayern: Sehen Sie neben dem Lerneffekt weitere positive Aspekte durch die vermehrte gemeinsame Familienzeit während Corona? Haben Sie da auch schon Erfahrungen?

Dr. Berkic: In Studien lässt sich eine starke Spaltung erkennen. Die Familien, die viele Schutzfaktoren haben und die ohnehin ganz gut miteinander auskommen, berichten tatsächlich, dass es auch viele positive Effekte gibt: Dienstreisen fallen weg, es gibt mehr gemeinsame Zeit zu Hause. Das Leben ist ruhiger, was vor allem im ersten Lockdown sehr positiv wahrgenommen wurde. Viele Familien berichten, dass sie gestärkt aus der Situation gehen und dass sie Dinge gemeinsam gemacht haben, die sie unter normalen Umständen nicht gemacht hätten. Das sehe ich positiv, aber ich sehe auch ganz klar die Kinder und Mütter, die wirklich sehr gelitten haben.

Über den zweiten und dritten Lockdown haben wir noch nicht so viele Zahlen, aber es zeigt sich leider sehr deutlich, dass es wirklich viele Kinder hart getroffen hat. Kinder lieben Strukturen und Vorhersehbarkeit, daher ist für sie diese wochenlange Unvorhersehbarkeit besonders schwierig. Wann geht es wieder in die Schule oder den Kindergarten? Wann sehe ich meine Freunde wieder? Was passiert als nächstes?

 

BKK LV Bayern: Sie sind Mutter von zwei Kindern. Haben Sie einen ganz persönlichen Tipp, was bei Ihnen am besten in Bezug auf Feinfühligkeit und Bindung funktioniert? Was tun Sie, wenn’s mal kracht und mal nicht Friede, Freude, Eierkuchen mit dem Nachwuchs herrscht?

Dr. Berkic: Mir hilft es, die Zeiten so einzuteilen, dass ich Freiräume schaffe, die dann wirklich nur einer Sache gehören. Sei es nur den Kindern oder nur der Arbeit. Also nicht zu viel auf einmal, sondern die Dinge ganz zu tun. Das ist in Corona-Zeiten schwierig, das gebe ich zu. Ansonsten versuche ich mich ganz bewusst vom Perfektionismus zu verabschieden und sehe die Chance, den Kindern eine gewisse Fehlertoleranz als Lebenseinstellung mitzugeben, in der man sich entschuldigen kann. Ich versuche, mich nicht jedes Mal zu verurteilen, wenn etwas nicht gut gelaufen ist, sondern ich sage: „Okay, das war nicht optimal, aber jetzt entschuldigen wir uns und wir reden darüber.“

 

BKK LV Bayern: Das war ein schönes Schlusswort, vielen Dank Frau Dr. Berkic.